Marlowe: Der Jude von Malta
Musik und Text: André Werner


Rüdiger Bohn, Dirigent
Stefan Herheim, Regie
Jan A. Schroeder, Bühne und Kostüme


Eiko Morikawa, Sopran
Almut Krumbach, Sopran
Márta Rósza, Mezzosopran
Maria Kowollik, Alt,
Tim Severloh, Countertenor
Otto Katzameier, Schauspieler


Matthias Ambrosius, Klarinette
Thomas Berg, Trompete
Nancy Sullivan, Viola
Julian Riem, Klavier
Konstantinos Raptis, Akkordeon

Bundesjugendorchester

Virtueller Bühnenraum,interaktives Bühnenbild & Kostümprojektion:

Nils Krüger
Bernd Lintermann
Joachim Sauter
Jan A. Schroeder
André Werner


Thomas Seelig, musikalische Live-Elektronik


Auftragswerk der Landeshauptstadt München, der GEMA-Stiftung und der Franz-Grothe-Stiftung zur Münchener Biennale
Produktion: Münchener Biennale in Zusammenarbeit mit ART + COM AG, Berlin und mit dem Büro Staubach
Uraufführung am 27. April 2002
weitere Vorstellungen am 28., 30. April und am 1. Mai 2002
Muffathalle

 

Christopher Marlowes Drama von 1593 ist der Gegenstand von André Werners Kammeroper – ein realistischer, ein handgreiflicher Stoff. Barabas, ein reicher jüdischer Kaufmann, wird vom maltesischen Gouverneur und seinen Granden enteignet, weil die Stadt den horrenden Tribut, den der türkische Sultan fordert, selbst nicht aufbringen kann. Aus dem Anwesen des Großhändlers machen sie ein Nonnenkloster, das Barabas‘ schöne Tochter Abigail danach noch zwei Mal betritt: einmal, um versteckte Schätze zu retten, das zweite Mal als reuig Konvertierte. Auf Anraten des spanischen Vizeadmirals, abgesandt vom „Katholikenkönig“, zahlen die Malteser mit dem konfiszierten Vermögen jedoch nicht das verlangte Schutzgeld, sondern einen Krieg gegen die Türken. Barabas rächt sich, indem er die Truppen des Sultans durch einen Geheimgang in die Stadt führt. Die Sieger ernennen ihn dafür zum Gouverneur. Doch Barabas schlägt seinem entmachteten Vorgänger einen Coup gegen die muslimischen Besatzer vor. Dabei stürzt er durch eine List des christlichen (Ex- und Wieder-)Gouverneurs in einen heißen Kessel, den er dem osmanischen Heerführer, dem Kronprinzen, zugedacht hatte. Den Prolog lässt Marlowe von einem sprechen, der sich auf die Philosophie der Macht spezialisiert hatte: Niccolò Machiavelli.
Marlowe zeichnet nicht nur mit präzisem, unverstelltem Blick das ungeschönte Porträt seiner Epoche in einer Schärfe, die ihresgleichen sucht. Er durchleuchtet generell die Verflechtung von Macht und Religion, von Heilslehren und politischer Gewalt, die sich vor allem in Nacht- und Nebelaktionen durchsetzt. Das Drama musste Kontroversen auslösen – zur Zeit, als es geschrieben wurde, aber auch danach, bis heute. Der Philosoph dieser Praktiken der Macht war Giacomo Machiavelli. So wenig wie andere, die sich im Kielwasser oder im Gegenstrom zu seinen Schriften bewegten, erreichte er, dass die Analyse eines Übels vor seiner Ausbreitung schütze.
André Werner stellte das Libretto zu seiner Oper selbst aus der Marlowe-Übersetzung Eduard von Bülows zusammen. Er wählte keine der modernisiertren Übertragungen. Die literarische Vorlage straffe und konzetrierte er jedoch ganz wesentlich und strich dadurch die Haupt- und Konfliktlinien des Textes deutlicher heraus.
„Die Gegenüberstellung dreier Weltreligionen, ihrer machtpolitischen Implikationen und der ihnen in¬newohnende gegenseitige Ausschließlichkeitsanspruch bilden die Grundkonstellation in dem Theaterstück des Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe, das hier Ausgangspunkt der Kammeroper Marlowe: Der Jude von Malta wird.
Machiavelli (fast noch ein Zeitgenosse von Marlowe!) – im Original nach einer Vorrede nicht mehr in Erscheinung tretend – wird in meiner Konzeption zum zentralen ‚Weltenstifter‘ und Spielleiter, der immer wieder in die von ihm initiierte Versuchsanordnung der Religionen und Machtaneignungen lenkend eingreift, um schließlich das Geschehen aus seiner Kontrolle entlassen zu müssen.“ (André Werner)
André Werner hat dabei die Vorlage Marlowes/von Bülows nicht nur gekürzt und verdichtet, sondern auch die Szenenfolge teilweise umgestellt, Abschnitte aus dem Anfang an das Ende des Dramas gestellt und umgekehrt. So entfaltet sich die Handlung nicht als linearer Prozess, sondern komplex durch Vorgriffe und Rückblenden. Die Figur des Machiavelli wird durch die ganze Oper geführt. Die Texte seiner „resets“, mit denen er zwischen die Szenen der anderen drängt, entstehen aus Fragmenten seines Prologs und aus Bausteinen der anderen, von ihm beeinflussten und gelenkten Rollen. Ihre sprachliche Logik entwickelt sich ebenfalls nicht mehr linear, sondern erhält Sinn durch Quer- und Rückverweise. Bereits in seinem „Vorspruch“ zerbricht die Sprache, verliert die Konsistenz der Bedeutungen. Sie ist allenfalls noch assoziativ, gestisch oder musikalisch nachzuvollziehen. Darin drückt sich eine kritische Erfahrung mit der Sprache und ihrer öffentlichen Funktion aus. Sie beschränkt den Gedanken häufiger, als dass sie ihn zu neuen Erkenntnissen treibt.
Der Vorgang des Sinnzerfalls in der Sprache überlagert sich mit einem anderen: Machiavelli übernimmt Passagen, die bei Marlowe den anderen Rollen zugeordnet sind. Er ist, er wird dadurch in das Geschehen verflochten, als dessen „Spielleiter“ er zunächst auftritt, verfällt selbst dem System, über dem er zu stehen meint.
Den dramatis personae ordnet André Werner in seiner Oper keine bestimmten Darsteller fest zu. Die vier Sängerinnen übernehmen irgendwann einmal jede Rolle, auch hier gibt es keine lineare, sondern eine komplexe dramaturgische Zuordnung. Ausnahme: Machiavelli, der „Spielleiter“. Er wird stets durch eine Doppelbesetzung von Countertenor und Schauspieler dargestellt.
Ort des Geschehens ist in André Werners Kammeroper „ein skizziertes Nonnenkloster, das als entscheidende Qualität eine ständig sich verändernde Architektur hat – der Raum existiert also genau im Moment seiner Veränderung.
Um dieses ästhetische Ideal umzusetzen, ist hier tradiertes Musiktheater auf eine besonders stringente Art mit dem Einsatz modernster elektronischer Mittel verflochten: neben der Verwendung von Kammerorchester und Gesangsstimmen wird in Abhängigkeit von Akteuren und Musikern eine künstliche, 'virtuelle‘ Bühnentopographie erzeugt, in der das Theater stattfindet, und das durch die Beeinflussung der Beteiligten einer ständigen Veränderung unterworfen ist; in 'Echtzeit‘ wird von Computern das jeweils hervorgerufene Bühnenbild erzeugt und projiziert, um im nächsten Moment wieder einer weiteren Variation zu weichen.
Während im ersten Abschnitt der Oper der Machiavelli-Darsteller 'seine‘ virtuelle Welt, die in Echtzeit generierte Bühnenarchitektur, steuert und beeinflusst, wird gegen Ende der Komposition das Kammerorchester mittels Mikrophonabnahme in das Geschehen einbezogen, in dem in der Partitur notierte musikalische Strukturen die Steuerung des Bühnenbildes (also der Computer) übernehmen und somit inhaltlich Machiavelli 'entmachten‘.“ (André Werner)