Lavinia A.
nach Shakespeare's Titus Andronicus
von
André Werner
Libretto:
Gerd Uecker
Die Konstellation von Machtpositionen, die Interdependenz der scheinbar
autonomen, für sich jeweils absolute Gültigkeit beanspruchenden
Haltungen der Protagonisten/ Parteien in Titus Andronicus und die daraus
resultierende gegen¬seitige Vernichtung [aus einer subjektiv identischen
Argumentation heraus], mit der Konsequenz der Einebnung jeglicher Valenz
über die reine Machterhaltung hinaus¬gehend, ist der faszinierende
Entwurf einer zeitlos aktuellen Interrogatio von Macht und ihrer Ausübung.
Der Stoff, der in ausführlicher Konsequenz die Behauptungen von
Macht unter¬sucht, bietet auch durch die eher skizzenhaft konturierten
Charaktere die Möglichkeit, die ihm innewohnende, fast unpersönliche
beziehungsweise sich von den Personen entfernende “Mechanik des
Grauens“ kompositorisch dergestalt zu verdichten, daß die
hochaktuellen politischen wie philosophischen As¬pekte sozusagen
skelettiert ihre eigene, neu entstehende dramaturgische Not¬wendigkeit
formulieren.
Zentrale Figuren in Titus Andronicus sind Lavinia und Tamora, an ihnen
manifestiert sich das Kraftfeld der Konstellationen.
Die Gotenfürstin Tamora bekommt, nach ihrer Gefangennahme und dem
rituellen Tod des Sohnes Alarbus, durch die Wirrnisse der Andronici
plötzlich neue Macht verliehen und nutzt diese für eine umfängliche
Rachestrategie an eben Titus und seiner Familie.
Lavinia, zunächst ganz unbeteiligt, wird durch ihren Vater zum
Ziel wie Werkzeug von Tamoras Plan; ihre Schändung ist daher zentral
aber auch zufällig - fast eine Art "Kollateralschaden"…
Nachdem Lavinia ihrer Stimme beraubt ist, beginnt sie das Folgende immer
mehr als ihre Vision zu schildern bis hin zu dem verschachtelten Traum-Plateau
im letzten Abschnitt - hier ist eine konkrete Hand¬lung lange verschwunden
und zu Erinnerung oder Anschauung geworden, artikuliert durch Lavinias
qualvolle Stimmsuche und ihr Sprechdouble.
Schließlich begegnet Tamora beim Festmahl erneut ihren Söhnen
Chiron und Demetrius, sie inkorporiert sie im Sinne des Wortes - und
darüber hinaus: Absicht und Handeln verschränken sich ineinander
und formen zusammen mit dem Widerpart, der gezwungenen Botin Lavinia,
die Höhle in der Aaron die Schatten besingt.
Titus bleibt fast ein Statist: er will selbstbestimmt und "staatstragend"
handeln und denkt es zu tun, aber stattdessen vollzieht sich an ihm
alles - er „wird gelebt“.
Lavinia A. konzentriert die umfangreiche Personage von Shakespeare’s
Ti¬tus Andronicus auf dieses Trio bestehend aus Lavinia, Tamora,
Titus, und Aaron - wobei dieser ab seinem "Quereinstieg" im
I. Teil eher vagierend auftritt, zum Teil kommentierend und dann wieder
Intrigen anstiftend.
Seine "durch das Stück wehende", fast ephemere Partie
verankert sich erst im Epilog - alle sind tot, nur Aaron beklagt, begraben
in seiner aus der toten Lavinia wie Tamora gebildeten Höhle, unbegangene
Taten die wie hineingeworfene Schatten auf eine Welt weisen, in der
"das, was geschah, möglich war und ist".
Weitere Figuren werden unpersönlich, informell durch den Chor zitiert.
Die Festmahlszene verfaltet das private Geschehen in die umgebende Öffentlichkeit;
das antike Forum wird als Ort der Begegnung zum Schauplatz der Implosion
von Macht und Gewalt.
Pars pro toto, oder:
E quel che fa ‘l signor fanno poi molti, [Und was der Herr tut,
tun dann viele;
ché nel signor son tutti gli occhi volti denn alle Augen sehen
auf den Herrn]
(Lorenzo de Medici)
Lavinia A. ist Teil meines Musiktheater-Projektes, das sich mit der
Untersuchung und Erörterung von Macht in ihren politischen, religiösen,
ethischen und soziologischen Setzungen befasst; neben Lavinia A. gehören
hierzu ausserdem die Oper „Marlowe: Der Jude von Malta“
(uraufgeführt als Auftragswerk der Münchener Opernbiennale
2002) sowie die kammerszenische Arbeit "Ianus - im Haus der Blendwerke"
in Zusammenhang mit „Nova Atlantis“ von Francis Bacon und
„Walden Two“ von B.F. Skinner.
A.W.
1.07