Augen-Blicke

Die Anregung zu meiner Komposition “Augen-Blicke” ist aus einer Lekture von “Unverhofftes Wiedersehen”(J.P.Hebel) heraus entstanden, und zwar der speziellen Betrachtung einer Beschreibungdes technischen/chemischen Phänomens der – vorübergehenden – Konservierung des wiedergefundenen jungen Bergmannes einerseits, und zum zweiten der “Wiederbegegnung” mit seiner Verlobten,deren hohes Alter das Weiterlaufen (ihrer) der Zeit dokumentiert.
Diese Aspekte erscheinen mir wie ein Vorgriff auf den kurz nach Entstehung des Textes begonnenen Versuch, mittels der Photographie zeitliche Abläufe in einem bestimmten, auch zufälligen Moment zu fixieren und dann im späteren Ansehen mit der fortlaufenden “Erlebniszeit” des Betrachters zu verfalten.
Das einzelne Bild dokumentiert einen vorher nicht fixierbaren "Augen"-Blick, es "entkoppelt" vorgefundene wie auch arrangierte Situationen aus einem Zeitfluß - hält Geschichte an, wo das Jetzt in Vergangenheit und Zukunft eingebunden war.
Aus dieser Bipolarität heraus habe ich auch das dramaturgische Konzept von “Augen-Blicke” entwickelt: immer wieder kontrastieren oder durchdringen sich Materialbeschreibungen mit dem Ablauf von fortspinnenden, prozesshaften Charakteren in “Zeitabläufen” oder auch emotionalen Betrachtungen; diesem Teil liegen auch die Textauszüge von Hebel zugrunde: die Verlobte schildert Abschied und Auffinden ihres Bergmanns und wendet sich im Ensemblelied (Abschnitt 3) dann direkt an ihn.
Sie ist für mich also mit dem Fortlaufen der Zeit, dem Leben verbunden, während Mathias Israelson in einem Augenblick seines Lebens technisch fixiert wird und ihr als vorübergehend zeitlos gewordenes Dokument ihrer Jugend erneut begegnet – in dieser Wiederbegegnung [durch das Zutageholen] aber auch schon der Beginn seiner Auflösung liegt.
In den Abschnitten 2 und 4 werden in einer Folge kurzer Momente dieses Anhalten und Einfrieren von Situationen (also für mich hier: das Photographieren) vermittels ständig wechselnder Intrumentationen und Texturen wie auch dem gelegentlichen Einflüstern von Textfragmenten durch die Instrumentalisten musikalisch formuliert; die hier verwendeten Textfragmente entstammen zeitgenössischen
(bzw. kurz nach dem tatsächlichen Geschehen verfassten) Beschreibungen des aufgefundenen Leichnams wie auch des prosaischen Fortgangs der Angelegenheit (die Braut verkaufte “ihre” Leiche an ein Institut).
Abschnitt 1 eröffnet rein instrumental diese parallel ablaufende Wahrnehmung der von mir ausgemachten inhaltlichen Textebene mit einem concertino der beiden Klaviere mit dem Kammerensemble.
Zudem ist durch die vierteltönige Versetzung der beiden Klaviere auch auf einer horizontalen musikalischen Ebene die Verstellung beider Ebenen gegeneinander angedeutet; hier wird die “Aufnahme”, das Stoppen eines heterogenen Ablaufs der beiden Klaviere durch rhythmische Schläge des Ensembles immer wieder neu vorgenommen.
In 5 schließlich wird versucht, beide Wahrnehmungsebenen zusammenzuführen; dies gelingt jedoch nur, indem die Klaviere ihre jeweils temperierte Stimmung aufgeben und reine Flageoletts auf den Saiten spielen [“ihr” System also verlassen oder verlieren d.h. die technisch durchstrukturierte Ebene aufgeben] und die Altstimme nur noch Töne und keinen Text [Individuum, Zeitablauf-Beschreibung] mehr singt.


Auch im visuellen Bereich ist eine doppelte, in das Ensemble an zwei verschiedenen Stellen auch örtlich eingebettete Form vorgesehen: einerseits an durch Wasserzeichnungen auf Stoff/Materialträger aufgebrachte Strukturen, die mit der Zeit - durch trocknen (in unterschiedlichen Dauern je nach Material) verschwinden, zum zweiten an eine Tafel, die – durch Wasserfluss auf spezielle Materialien “belichtete” d.h. aktiv/ sichtbar gemachte - Motive in ihrem Entstehungsprozess dokumentiert.
Es ist also eine parallele, in sich verschränkte optische Darstellung eines konkreten Entwicklungsprozesses wie auch des Vergehens eines fixierten Augenblicks vorgesehen, sozusagen eine gegenläufige Gleichzeitigkeit .


A.W. 12.08